Exerzitien mit P. Pius

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Genug vom Zuviel?

In einem Gedicht eines zeitgenössischen russischen Dichters heißt es:

 

„In Zeitnot geraten, wie in ein Netz, ist der Mensch,

atemlos hetzt er durch sein Leben und wischt sich den Schweiß.

Ein Fluch des Jahrhunderts ist diese Eile.

 

Es wird ganz eilig gezecht und ganz eilig geliebt,

ganz tief sinkt die Seele dabei –

man martert ganz eilig, vernichtet ganz eilig,

ganz eilig sind später Reue und Busse vorbei.

 

Du aber wenigstens halte inne in deiner Welt,

sei’s wenn sie schläft, sei’s wenn sie tobt…

Auf halbem Weg wenigstens bleibe stehen,

dem richtenden Himmel vertraue dich an!

 

Denke nach, besinne dich – wenn nicht über Gott –

So doch wenigstens über dich selbst…

Begreife, wie kläglich der ist, der dahineilt ohne Besinnung,

wie groß der Ist, der innehalten kann.

 

Den Staub aller Eitelkeiten fege ab,

die Ewigkeit lass dir endlich wieder in den Sinn kommen…

Halt ein, bleib doch endlich stehen – du hast Gott vergessen

und schreitest ja über dich selbst hinweg.“

 

 

Beschwörende Worte des russischen Dichters Jewtuschenko.

„In Zeitnot geraten wie in ein Netzt ist der Mensch, atemlos hetzt er durch sein Leben…“

Zeitmangel, Termindruck, Leistungsdruck, Stress am Arbeitsplatz und im privaten Alltag plagen und belasten viele Menschen.

Das Gedicht von Jewtuschenko erinnert mich an einen Ausspruch von Angelus Silesius.

 

Ein Vers in seinem Cherubinischen Wandersmann lautet:

 

„Halt an! Wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir.

Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“

 

Auch hier das „Halt an!“

Bremse ab! Stopp mal! Der Aufruf zum Innehalten.

 

Dann die Frage: „Wo läufst du hin?“

Was sind deine Ziele? Was treibt dich um? Was verfolgst du?

 

Und der Hinweis: „Der Himmel ist in dir!“

Suche Gott in dir!

 

Im Gedicht von Jewtuschenko heißt es:

„Halte inne in deiner Welt…,bleib stehen!

Dem richtenden Himmel vertraue dich an!

Denke nach, besinn dich – wenn nicht über Gott –

so doch wenigstens ganz einfach über dich selbst.“

 

Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht?

Mir kommt vor, die Menschen geraten immer mehr in Hast und Eile. Das Leben wird immer hektischer und stressiger.

Tempo, Zeitdruck, Leistungsdruck sind Kennzeichen unserer Zeit.

 

Der heutige Mensch ist in vielfacher Weise ein Gehetzter, ein Gejagter, ein Geplagter.

In Vorstellungsrunden am Anfang von Exerzitien höre ich immer wieder Menschen sagen, dass sie sich wie in einem Hamsterrad fühlen bzw. sich wie in eine Tretmühle eingespannt vorkommen, in die Tretmühle der täglichen Aufgaben, Pflichten und Anforderungen Und diese, so scheint es, werden nicht weniger, sondern immer mehr.

 

„Immer mehr, immer besser, immer schneller!“

Unser Wirtschaftssystem und unser materieller Wohlstand beruhen auf dieser Maxime.

 

Dazu kommt: Viele Menschen fühlen sich fremdbestimmt und außengesteuert. Sie haben den Eindruck, bloß noch zu rotieren und zu funktionieren, mehr gelebt zu werden, als zu leben.

 

Deshalb suchen die Menschen nach Wellnessangeboten, Entspannungstechniken, sportlichem Ausgleich.

Eine ganze Industrie lebt davon.

 

Mich wundert es nicht, dass auch der Ruf nach Stille, nach Innehalten, nach zur Ruhe-Kommen immer dringlicher wird.

 

Innehalten, Sich erholen, entspannen, aufatmen, innerlich zur Ruhe kommen. Jeder von uns sehnt sich danach.

 

Wir brauchen immer wieder solche Zeiten. Wir brauchen Einkehr und Besinnung. Der Mensch ist keine Maschine. Und selbst diese muss ab und zu abgestellt, gewartet und gepflegt werden.

 

Wir brauchen Einkehr und Besinnung aber nicht nur für uns selbst, sondern auch um der anderen willen.

 

Doch unsere Zeit ist schnelllebig.

Ruhelos, rastlos hetzen wir von einem Termin zum anderen.

Die Anforderungen im Beruf und in anderen Lebensbereichen nehmen immer mehr zu.

Alles wird schneller, effizienter, rasanter und atemloser.

Auf Knopfdruck werden optimale Ergebnisse erwartet.

 

Hohe Flexibilität und Mobilität ist gefragt.

Heute hier, morgen dort. Heute aufgebaut, morgen abgerissen. Heute als das Nonplusultra eingeführt, morgen ausrangiert.

Was gestern galt, gilt heute schon nicht mehr.

 

Zur Schnelllebigkeit, kommt die Kurzlebigkeit.

Nichts ist so alt, wie die Zeitung von gestern.

In der Flut der Informationen findet über Handy, PC, Internet, Facebook usw. auch die unbedeutendste Meldung begierige Abnehmer. Allerdings gilt auch da:

Heute gegessen, morgen schon vergessen.

 

Vor einem Jahr habe ich einen Brief bekommen von einer jungen Frau, die bei Siemens arbeitet und oft auch im Ausland Aufträge und Einsätze hat. Sie schreibt:

 

„Die Arbeit nimmt leider – wie immer – viel Raum ein und raubt mir viel Energie. Manchmal betrachte ich ungläubig unsere Welt bzw. Gesellschaft mit ihrem „immer größer, immer schneller, immer weiter, immer mehr“. Und denke, wir sind verrückt. So kann es doch nicht weitergehen. Das kann doch wirklich nicht glücklich machen. Manchmal frage ich mich, ob das das Leben ist und ob ich wirklich so leben will.“

 

Und dann ist da noch der Anspruch an einen selbst: Man möchte tun, was man kann. Man möchte alles gut machen, perfekt, die Aufgaben prompt erledigen, sorgfältig, 100- und 120-prozentig.

 

Stress und Hektik drücken sich auch in dem Wahnsinn aus, jeder Zeit und überall erreichbar sein zu müssen und jeder Zeit und überall jede Information abrufen zu können.

 

Und wer nicht mithalten kann, wird abgehängt, der kommt unter die Räder. Voraus und damit einher geht oft ein Hauen und Stechen. Mobbing am Arbeitsplatz, gar nicht so selten!

 

Was aber tun, wenn die ToDo-Liste nicht abnimmt?

Kaum ist ein Berg abgetragen, türmt sich schon der andere auf.

Ein immerwährendes Abarbeiten. Sisyphus lässt grüßen.

 

Was tun, wenn die Arbeit einem über den Kopf wächst?

Noch mehr arbeiten? Noch mehr powern? Auch noch nach Feierabend? Und am Samstag und Sonntag auch noch?

 

Was tun, wenn sich massiv das Gefühl der Überforderung einstellt und ein Zustand der Erschöpfung? Keine Energie mehr, kein Schwung, keine Lust, kein Antrieb, kraftlos, saftlos. Der Akku ist leer. (Der „leere Akku“ und das Bild vom „Auftanken“ tauchen als Motivation auch häufig bei meinen Kursangeboten auf.)

 

Dazu kommt die Angst, nicht mehr mithalten zu können? Angst, den Job zu verlieren? Angst, als wenig belastbar zu gelten, ein Weichei zu sein? Angst vor dem Verlust an Anerkennung?

 

Was ist, wenn man dann auch noch in privater Beziehung in der Krise steckt, wenn massive Beziehungsstörungen, Ehe- und Familienprobleme dazukommen?

 

Was ist, wenn man immer weiter ins Loch abrutscht oder sich wie in einem Tunnel fühlt, kein Licht mehr sieht und nicht mehr weiter weiß?

 

Immer mehr Menschen scheiden wegen psychischer Erkrankungen früher aus dem Berufsleben aus und gehen mit ärztlichem Attest wegen Berufsunfähigkeit vorzeitig in Rente.

39,3 % waren es laut Krankenkassenstatistik im vorigen Jahr.

 

Die Statistik stellt auch immer mehr diagnostizierte Depressionen und Burnouts fest, immer mehr Krankschreibungen, immer längere Krankheitsdauer und immer mehr Therapien.

 

Folgenden Spontispruch habe ich neulich gelesen:

„Lebe schneller, dann bist du eher fertig.“

Das klingt ironisch und hintergründig.

 

„Lebe schneller, dann bist du eher fertig.“

Ist ein schnelleres Leben, ein Leben im Sauseschritt, ein Leben im Eiltempo ein besseres und intensiveres Leben?

 

„Lebe schneller, dann bist du eher fertig.“

Wir haben den Wunsch, einmal fertig zu werden, es geschafft zu haben, etwas hinter uns gebracht, bewältigt und gemeistert zu haben. Und dann entspannen zu können. Wie schön ist das!

 

Doch wer immer nur nach dem Motto lebt: schneller, besser, mehr und immer mehr hineinpackt in den Tag, ihn voll stopft mit tausend Dingen und dadurch selber zu ist und besetzt, dauernd in Action, eingespannt und angespannt, der wird bald auf andere weise „geschafft sein“, „fertig“, nämlich völlig geschafft, fix und fertig, am Ende, erschöpft und ausgebrannt.

 

„Lebe schneller, dann bist du eher fertig.“

Dieser Satz provoziert. Er regt zum Nachdenken an.

Er wirbt für ein bewusstes, entschleunigtes, achtsames Leben.

 

Vor einiger Zeit bin ich noch auf ein anderes Wort gestoßen.

Es lautet:

„Früher lebten die Menschen 40 Jahre plus ewig.

Heute leben sie nur noch 90 Jahre.“

 

Der Verlust der Ewigkeitsperspektive. Auch der hat seinen Preis.

Er erzeugt Druck. Volle Konzentration auf das irdische Leben. Alles muss in diesem Leben passieren. Es ist ja die letzte Gelegenheit.

 

In Folge dessen: Totale Mobilmachung! Maximales, optimales Glück, und zwar subito, sofort, hier und heute! Mitnehmen, was mitzunehmen ist! Herausholen, was man herausholen kann! Ohne Rücksicht und auf Teufel komm raus. Und oft kommt er dann ja auch raus: übertriebener Ehrgeiz, Gier, Habsucht, Selbstsucht, Überhastung, Hektik, Stress, Überreiztheit, Nervosität und in Gestalt einer ganzen Reihe von Zivilisationskrankheiten.

Gnadenlose Diesseitigkeit!

 

In unserer „Multi-Options-Gesellschaft“ sind wir außerdem ständig beschäftigt auszuwählen. So viele Angebote! Angesichts der vielen Angebote und Möglichkeiten ahnen wir, dass jede Entscheidung für jemanden oder gegen etwas den Ausschluss der übrigen Optionen bedeutet.

 

Sogar die Freizeit wird zum Stress.

Auch da gerät man/frau zunehmend unter Erwartungs-, Leistungs- und Entscheidungsdruck.

So vieles ist möglich. Im Grunde möchte man alles mitnehmen.

Ja nichts versäumen! Panische Angst, etwas zu verpassen!

Und so hetzt man von Event zu Event.

 

In letzter Zeit hör ich immer wieder: „Das ist ein Muss!“

Oder gar: „Das ist ein absolutes Muss“.

Auf Englisch: „It is a must!“

 

Eigentlich sollte man meinen, dass in unsere Zeit der Liberalisie­rung vieler Lebensbereiche, der Individualisierung und der Vielfalt möglicher Lebensentwürfe solche Sätze nicht mehr vorkommen. Das Gegenteil ist der Fall.

 

„Must-see“-Listen führen Filme auf, die man gesehen haben muss. „Must-hear“-Listen sammeln die Musik, die man gehört haben muss. „Bestsellerlisten“ machen auf Bücher aufmerksam, die man, wenigstens das eine oder andere, gelesen haben sollte.

 

Aufgelistet werden auch Reiseziele, die man besuchen, Restaurants, in denen man essen und Mode, die man tragen muss.

„Must have“- Rubriken führen tausend Dinge auf, die das Leben lebenswert machen und die man unbedingt haben muss.

 

Auf der anderen Seite gibt es die „No-Go´s“, also die Dinge und Verhaltensweisen, die überhaupt nicht in Frage kommen, wenn man „in“ sein und „stylish“ leben will.

 

Welch gesellschaftlicher Druck! Wie viele Zwänge!

Moderne Gebote und Verbote, an die man sich halten muss, wenn man dazugehören und up to date sein will! Dahinter stehen natürlich auch handfeste wirtschaftliche Interessen.

 

Bei der Vielzahl der „Must have“ und „No Go´s“ kann man allerdings fragen: Und was ist das Wichtigste?

Lassen sich die vielen „Musts“ und „No Go´s“ auf Grundgedanken zurückführen, die in der Unübersichtlichkeit unserer Zeit, in der Vielfalt der Angebote und angesichts der Ratlosigkeit so vieler Menschen hilfreich sind, Orientierung geben, den Weg weisen, Ziele aufzeigen, Sinn stiften, bleibende Werte vermitteln?

 

Im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ steht unter der Nummer 623 ein Gedicht von Lothar Zenetti, vertont von Peter Kempin. Darin heißt es:

„Worauf sollen wir hören? Sag uns worauf? – So viele Geräusche, welches ist wichtig? So viele Beweise, welcher ist richtig? So viele Reden! – Ein Wort ist wahr.

Wohin sollen wir gehen, sag uns wohin? – So viele Termine, welcher ist wichtig? So viele Parolen, welche ist richtig? So viele Straßen! – Ein Weg ist wahr.

Wofür sollen wir leben, sag uns, wofür? – So viele Gedanken, welcher ist wichtig? So viele Programme, welches ist richtig? So viele Fragen! – Die Liebe zählt.

 

Apropos Ewigkeitsperspektive:

Ein junger Student kam zu Philipp Neri, um ihm seine Lebenspläne zu schildern.

Er wolle Rechtsanwalt werden, berichtete er.

Alle Leute würden sagen, er sei geeignet für diesen Beruf.

„Und dann?“ fragte Philipp Neri.

Die Antwort: Er wolle als Rechtsanwalt sich einen Namen machen, Erfolg haben, dann heiraten und sich ein Haus bauen.

Wieder antwortete Philipp Neri: „Und dann?“

Dann wolle er am Gericht in Rom Karriere machen, einen hohen Posten erreichen, ein reicher, angesehner und einflussreicher Mann sein. – Philipp Neri insistierte: „Und dann?“

Dann wolle er sich eines Tages mit einer hohen Pension zur Ruhe setzen. – Philipp ruhte nicht mit seinem stereotypen:

„Und dann“?

Da blieb dem jungen Studenten nichts anderes als die Antwort:

„Dann, ja dann, werde ich wohl eines Tages sterben müssen.“

Philipp Neri zog den Kopf des jungen Mannes nah an sich heran und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Und dann?“

 

Die Fixierung auf das Diesseits, verbunden mit dem Streben, möglichst viel zu erreichen und verbunden mit der Angst, ja nichts zu verpassen, diese Fixierung entsolidarisiert, führt zur Ellenbogenmentalität, macht hart, rücksichts- und gnadenlos.

Wer jedoch jetzt nicht alles haben muss, weil ihm das Beste noch bevorsteht, verliert die Angst zu kurz zu kommen. Er hat Zeit, sich anderen zuzuwenden, besonders denen, die am Rande stehen und leer ausgehen.

 

Und so sagt Heinrich Böll:

„Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen Welt vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.“

 

Der heilige Ignatius empfiehlt in einer Übung, das Leben vom Ende her in den Blick zu nehmen. Und so – von hinten her betrachtet – Bilanz zu ziehen, zu sortieren, zu gewichten und Leben neu zu ordnen.

Wie möchte ich rückblickend in meiner letzten Stunde gelebt haben? Für wen möchte ich da gewesen sein und mich eingesetzt haben? Bin ich auf dem richtigen Weg? Stimmt die Richtung noch? Wo muss ich umkehren, wo mein Leben neu ausrichten?

 

„Da fragt man seine Arbeit, für wen sie denn nütze ist?

Und da fragt man die Freizeit, ob sie auch Freiheit geschenkt hat.

Und man fragt nach der Liebe und nach der Treue.

Man fragt, ob man seinen Kindern in die Augen sehen kann.

Und welche Gewissheiten am Ende bleiben.“ (Johanna Haberer)

 

Die Übung will helfen, sich auf das Wesentliche zu besinnen, wieder neu zur Mitte zu finden, Prioritäten zu setzen, Ziele neu zu justieren, meiner Lebenszeit einen neuen Rhythmus und einen neuen Atem zu geben.

 

Unser Leben gleicht oft einem ungeordneten Dahinstürmen. Manchmal sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

So vieles, was sich so wichtig gebärdet. So vieles, was man meint zu müssen. Wir gehen auf in Pflichten, Aufgaben und Sorgen. Und am Schluss gehen wir darin unter.

 

Bisweilen gleichen wir dem Bauern, der jammert:

„Ich habe so viel zu tun: das Saatgut einkaufen, die Steuererklärung schreiben, die Genossenschaftsversammlung besuchen und dieses und jenes, zur Feldarbeit komme ich wirklich nicht mehr.“

 

Das Unwesentliche frisst das Wesentliche auf.

Wie gelingt es, das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden?

 

Es tut gut, sich immer wieder einmal aus der Betriebsamkeit zurückzuziehen, innezuhalten, zur Besinnung zu kommen, Ruhe zu finden, sich den Freiraum der Stille zu schaffen.

 

Steter Lärm, dauernde Unrast machen den Menschen krank.

Ruhe und Stille befreien von Hetze und Angst.

 

Was uns immer wieder gut tut, ist die Atempause, das Verschnaufen. Was immer wieder einmal brauchen, ist Distanz zu den Dingen, die sich so wichtig gebärden und uns in Beschlag nehmen.

 

Innehalten, statt atemlos leben; entschleunigen, um zu sich selbst zu kommen; ruhig werden und still, um der eigenen Lebensmelodie nachzuspüren; die Achtsamkeit einüben; versuchen, mit liebender Aufmerksamkeit in der Gegenwart zu sein und sich immer wieder in die Gegenwart zurückzuholen.

 

Das Lesen von Selbsthilfebüchern und Lifestyleratgebern reicht nicht aus, wenn das Gelesene nicht umgesetzt wird.

Ein Einkehrtag pro Jahr oder ein Boxenstopp im Kloster an einem Wochenende bringt es nicht, wenn nachher das Rennen und Laufen, Jagen und Hetzen genauso weitergeht wie vorher, wenn für das tägliche Einkehren, für die tägliche Unterbrechung keine Zeit bleibt oder man sich dafür keine Zeit nimmt.

 

Es reicht nicht aus, ein Atemseminar mitgemacht zu haben und einmal achtsames Atmen praktiziert zu haben, wenn der Alltag dann wieder ganz und gar einem Hinterherhecheln gleicht.

 

Auch eine Woche Exerzitien (geistliche Übungen) reicht nicht aus, wenn vergessen wird, dass das eigentliche Übungsfeld der Alltag ist und dass die „Exerzitien“ erst dann wirklich beginnen, wenn sie aufhören.

 

Unterbrechen, innehalten, achtsam sein, mit der Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt sein, nach Anspannung entspannen, sich immer wieder behutsam herunterholen, sich liebevoll in die Gegenwart zurückholen, kleine Atempausen im turbulenten Alltag, das ist eine tägliche und eine lebenslange Übung.

 

Dabei können schon kleine Akzentsetzungen und Zielvorgaben weiterhelfen. Zum Beispiel: 

  • Multitasking möglichst vermeiden! Keine drei oder vier Dinge gleichzeitig tun (z. B. frühstücken, Zeitung lesen, Fernsehgucken und telefonieren)!

  • Eines nach dem anderen, Step by Step! Alles hat seine Zeit. Und alles zu seiner Zeit.

  • Nicht schon immer beim der nächsten Sache sein! In der Gegenwart sein, im Hier, im Jetzt, im Heute! „Dein wichtigster Tag ist heute. Darum erfülle ihn mit Frieden, Liebe und Gedanken der Freude“ (F. Hübner).

  • Eile mit Weile. Warten können! Reifen und wachsen lassen! Geduld haben. Gut Ding braucht Weile.

  • Ent-schleunigen, Saumseligkeit üben.

  • Auch einmal „nein“ sagen können.

  • Es nicht immer jedem recht machen wollen.

  • Sich Zeit nehmen für Freunde, Familie, für sich selbst. (Ein guter Puffer gegen Stress ist ein stabiles, soziales Netz.)

  • Den Sonntag heilig halten. (Erich Fromm nennt den Sabbat „das größte Geschenk des Judentums an die Menschheit“.)

  • Die Kraft und Macht der Stille entdecken. Lärmquellen meiden!

  • Auch kleine Erholungszeiten nutzen! Kurze Momente des Aufatmens wahrnehmen. Und dabei aufblicken zu Gott. Das Herz zu Gott erheben.

  • Sich der Gegenwart Gottes bewusst sein. Leben in der Gegenwart Gottes!

  • Eine „Mystik im Alltag“ einüben. Gott finden in allen Dingen. Den Alltag als Ort der Gottesbegegnung erkennen. „Die Welt ist Gottes so voll“ (A. Delp, SJ). Er räumt aber nicht alle Hindernisse für mich aus dem Weg. Trotz Gottes Nähe bleibt Schweres schwer, Bedrängnis bedrängend, Notvolles notvoll. Gott bewahrt nicht vor allem Leid, aber in allem Leid.

  • Warum es nicht wieder einmal mit Stoßgebeten versuchen? z.B.: „In Gottes Namen“ – „Jesus, alles dir zu lieb!“ (Josef Haydn begann seine Partituren mit den Worten Im Namen des Herrn! und am Ende: Gott allein die Ehre!)

Schließen möchte ich mit Texten und Geschichten, die noch einmal einiges von dem Gesagten einfangen und es auf den Punkt bringen:

 

„Guten Tag“, sagte der kleine Prinz. „Guten Tag“, sagte der Händler. Er handelte mit höchst wirksamen, durststillenden Pillen.

Man schluckt jede Woche eine und spürt überhaupt kein Bedürfnis mehr zu trinken.

„Warum verkaufst du das?“ fragte der kleine Prinz. „Das ist eine große Zeitersparnis“, sagte der Händler. „Die Sachverständigen haben Berechnungen angestellt. Man spart 53 Minuten in der Woche.“ – „Und was macht man mit diesen 53 Minuten?“

„Man macht damit, was man will.“

Wenn ich 53 Minuten übrig hätte“, sagte der kleine Prinz, „würde ich ganz gemütlich zu einem Brunnen laufen…“

(aus Saint-Exupery, Der kleine Prinz)

 

 

Es lebte ein Mann, der war ein sehr tätiger Mann.

Er konnte es nicht übers Herz bringen, eine Minute seines wichtigen Lebens ungenützt zu lassen. Wenn er in der Stadt war, so plante er, in welchen Badeort er reisen werde. War er am Badeort, so beschloss er einen Ausflug nach Marienruh, wo man die berühmte Aussicht hat. Saß er dann auf Marienruh, so nahm er den Fahrplan zur Hand, um nachzusehen, wie man am schnellsten wieder zurückfahren könne. Wenn er im Gasthof einen Hammelbraten verzehrte, studierte er während des Essens die Karte, was man nachher bestellen könnte. Und während er den Wein hastig hinuntergoss, dachte er, dass bei dieser Hitze ein Glas Bier wohl besser gewesen wäre.

So hatte er niemals etwas getan, sondern immer nur ein Nächstes vorbereitet. Und als er auf dem Sterbebett lag, wunderte er sich sehr, wie leer und zwecklos doch eigentlich sein Leben gewesen sei.

(Autor unbekannt)

 

 

Ein in der Meditation erfahrener Mann wurde einmal gefragt, wie er es macht, dass er immer so gesammelt sein könne, trotz seiner zahlreichen Beschäftigungen. Er sagte:

 

Wenn ich stehe, dann stehe ich

Wenn ich gehe, dann gehe ich

Wenn ich sitze, dann sitze ich

wenn ich esse, dann esse ich

wenn ich spreche, dann spreche ich

 

Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten:

Das tun wir doch auch! Was machst du noch darüber hinaus?

 

Er sagte wiederum:

 

Wenn ich stehe, dann stehe ich

Wenn ich gehe, dann gehe ich

Wenn ich sitze, dann sitze ich

wenn ich esse, dann esse ich

wenn ich spreche, dann spreche ich

 

Wieder sagten die Leute:

Das tun wir doch auch!

 

Er aber sagte zu ihnen: Nein,

wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon

wenn ihr steht, dann lauft ihr schon

wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.

(östliche Weisheit)

 

 

Wenn dein Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart deines Herrn. – Und selbst wenn du nichts getan hast in deinem ganzen Leben außer dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart unseres Gottes zu versetzen, obgleich es jedes Mal wieder fortlief, nachdem du es zurückgeholt hattest, dann hast du dein Leben erfüllt.

(Franz von Sales)

 

 

Halte inne,

inmitten vieler Fragen,

inmitten vieler Sorgen,

inmitten vieler Ängste,

inmitten deines Lebens

jeden Tag aufs Neue.

Denn das Wort, das dir Mut macht,

kannst du dir nicht selbst sagen.

Denn die Hoffnung, die dich trägt,

kannst du dir nicht selber geben.

Denn die Liebe, die dich beflügelt,

muss erst in dir geweckt werden.

Halte inne,

damit all dies geschehen kann.

(Udo Hahn)

 

 

Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich.

Er wusste, es war eine sehr notwendige Arbeit.

 

Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig:

Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter: Schritt – Atemzug – Besenstrich.

 

Während er sich so dahinbewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die saubere, kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedanken, die sich so schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich gerade eben noch erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat.

 

Nach der Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da er ihr auf ihre besondere Weise zuhörte, löste sich seine Zunge, und er fand die richtigen Worte: „Siehst du, Momo“, sagte er dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.“

 

Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.

 

Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

 

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße ge­macht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“

(Michael Ende)

 

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