geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Heilige Odilia

 

 

Einer der schönsten Flecken unseres Nachbarlandes jenseits des Rheins ist für mich der Odilienberg, der „heilige Berg“ des Elsaß, der etwas südlich von Straßburg aus der Rheinebene aufragt.

 

Der Odilienberg hat bis heute eine ungeheure Anziehungskraft.

Er ist ein beliebter und viel besuchter Wallfahrtsort. Bis zu zwei Millionen Wallfahrer und andere Gäste suchen jährlich diesen Berg auf. An schönen Sommertagen ist der Andrang der Touristen und Pilger besonders groß.

 

Bekannt ist der Odilienberg für seinen großartigen Rundblick.

Wenn das Wetter mitspielt hat man eine ausgezeichnete Sicht.

Der Blick geht weit über die elsässischen Weinberge zum Straßburger Münster und reicht bis in die gegenüberliegenden Schwarzwaldtäler hinein. Westwärts schweift der Blick über die vielen Höhenzüge und Bergrücken der endlos scheinenden Vogesenwälder.

 

Auf dem Odilienberg kann man vieles hinter sich lassen – auch wenn es nur für ein paar Stunden ist, den Kopf frei bekommen und erfahren, wie hilfreich es sein kann, manches mit Abstand anzuschauen und aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Was im Alltag groß und wichtig erscheint, wird oben auf dem Berg – aus der Distanz betrachtet – nichtig und klein.

 

Viele Pilger tragen aber auch ihr Päckchen mit hinauf.

Unter jedem Dach gibt es ja bekanntlich ein Ach!

 

Sie kommen den „heiligen Berg“ hinauf, weil sie auf die Hilfe der heiligen Odilia hoffen und auf ihre Fürbitte bei Gott vertrauen. Sie tragen hinauf, was sie ängstigt und quält. Sie kommen mit ihren Sorgen und Nöten, mit ihrem Mühen und Ringen, mit ihrem Hoffen und Bangen.

 

Alles, was ihr Leben ausmacht, auch alles, was das Leben schwer macht, bringen sie der heiligen Odilia und übergeben es ihr voll Hoffnung und Vertrauen. Letztlich ist es ein vertrauensvolles Loslassen und Abgeben all der Dinge, die wir meinen leisten, meistern, organisieren, managen und in den Griff kriegen zu müssen, wobei wir doch so oft an unsere Grenzen stoßen, unsere Ohnmacht erfahren und Schwachheit, Scheitern und Enttäuschung erleben.

 

All dies durch die heiligen Odilia in die Hände Gottes legen, alles IHM anvertrauen, dass ER sorgt und lenkt und zum Guten wendet.

Das erleichtert und befreit. Es macht gelassen und zuversichtlich.

 

Viele haben schon auf dem Odilienberg Hilfe und Trost gefunden. Und sie verlassen den Berg wieder neu gestärkt, erfüllt mit neuer Kraft und frohem Mut.

 

Und nicht wenige gehen auch den Berg hinauf um zu danken für Erhörung in Krankheit, Ausweglosigkeit, in Not und Gefahr, zu danken für spürbare Hilfe in Sorgen und Schmerz, in Unglück und Leid.

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Wer auf den Odilienberg kommt, findet in der Wallfahrtskirche zu jeder Tageszeit und zu jeder Jahreszeit betende Menschen vor dem ausgesetzten Allerheiligsten. Die katholischen Gemeinden des Elsaß wechseln sich bei dieser „ewigen Anbetung“ in ihrem Nationalheiligtum ab.

 

Der Odilienberg ist diesbezüglich das Vorbild für den Lindenberg bei St. Peter im Schwarzwald, wo ununterbrochen Tag und Nacht Männer der Erzdiözese Freiburg „ewige Anbetung“ halten und die Gegenwart Christi im allerheiligsten Sakrament des Altares verehren.

In meinen Augen sind diese Gebetswachen ein ganz wichtiger Dienst. Vielleicht sähe es in unserer Welt, in der großen der Gesellschaft und Politik noch ganz anders aus, wenn es diese Stätten des Gebetes nicht gäbe, aber auch in unserer kleinen Welt der Gemeinden, der Familien und Betriebe.

 

Solche Stätten des Gebetes und der Anbetung sind meines Erachtens ein großer Segen. Es sind Kraftorte, von denen Licht und Frieden hinausstrahlt in die Welt.

 

Ich bin überzeugt: Inständiges, vertrauensvolles Beten bewegt und verändert die Welt mehr als die Großen, die Schaffer und Macher meinen, ahnen oder sich vorstellen können.

Das Gebet ist eine große Macht. „Bittet und es wird euch gegeben“, sagt Jesus, „klopft an und es wird euch aufgetan!“

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Odilia selbst war zweifelsohne eine Frau des Gebetes.

Weil ihr Vater sie, die blindgeborene Tochter nicht wollte, sondern sie ablehnte, ja sogar umbringen lassen wollte, kam sie als kleines Kind in ein Kloster bei Besacon. Dort befand sich Odilia nicht nur in Sicherheit, sondern war auch angenommen und erfuhr eine klösterliche Erziehung.

Odilia hat von Kindesbeinen an das Vorbild der Ordensschwestern erlebt. Sie hat täglich erlebt, wie sich die Nonnen mehrmals am Tag – vielleicht sogar um Mitternacht – zum Chorgebet versammelt haben. Der Tagesablauf im Kloster hat ja seinen Rhythmus durch die gemeinsamen Gebetszeiten.

Odilia gründete selbst zwei Klöster, Stätten der Stille und des Gebetes. Eines auf dem Odilienberg und eines zehn Jahre später am Fuße des Berges.

 

Zwei Szenen aus ihrem Leben zeigen die heiligen Odilia als Betende bzw. beim Gebet.

Die erste Szene zeigt, wie Odilia für ihren verstorbenen Vater im Fegfeuer betet und ihm durch ihr Gebet Rettung und Hilfe schenkt. – Odilia hat das Wort Jesu ernst genommen, das da lautet: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem!“ Und „Betet für die, die euch verfluchen! Tut Gutes denen die euch hassen!“

Odilia hat sich durch das Unrecht, das ihr der Vater angetan hat, nicht verbittern oder zu Groll und Rache verleiten lassen, sondern war bereit zu vergeben. Sie betete für ihren Vater, der ihr so viel Schlimmes und Böses zugefügt hatte und der so sehr der Barmherzigkeit Gottes bedurfte.

 

Die zweite Szene des Gebetes ist uns von ihrer Sterbestunde überliefert. Als Odilia ihr Ende nahen fühlte, schickte sie ihre Mitschwestern zum Gebet in die Kirche. Als diese in ihre Sterbezelle zurückkamen, lag Odilia tot auf dem Boden. Die ganze Schwesternschar begann inständig zu beten. Da öffnete die Tote die Augen, richtete sich auf und ergriff selbst den Kelch mit der heiligen Kommunion, den man ihr gebracht hatte. Sie nahm daraus eine Hostie als Wegzehrung und verschied. (Darum wird die heilige Odilia manchmal auch mit einem Kelch dargestellt.)

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Als die heilige Odilia um 680 ihr Kloster auf dem „heiligen Berg“ im Elsaß gründete, wurden gleichzeitig auf anderen Bergen bedeutsame Klöster errichtet: Monte Casino durch den heiligen Benedikt, das Mönchskloster auf dem Berg Athos in Griechenland. Und das Katharinenkloster am Sinai wurde aufgebaut.

Und wir dürfen hier in unserer näheren Umgebung unter anderen das Kloster Gengenbach, Alpirsbach und Allerheiligen dazuzählen, auch unseren eigenen Wallfahrtsort hier in Zell „Maria zu den Ketten“. Und etwas weiter weg den Hörneleberg, St. Peter, St. Trudpert, St. Blasien.

 

In meiner fränkischen Heimat sind es Walldürn, der Engelberg (bei Miltenberg), das Käppele in Würzburg und Vierzehnheiligen (bei Bamberg), wohin meine Vorfahren gern gepilgert sind, um zu beten, um ihre Sorgen und Anliegen hinzutragen und neue Kraft zu schöpfen für ihren oft mühevollen und entbehrungsreichen Alltag.

Oder es war am Sonntagnachmittag einfach der Gang zu „Heiligtümern“ in der heimischen Flur: zu einer Kapelle im Wald, zu einem Kreuz oder zur Lourdesgrotte.

 

Ob nicht, liebe Schwestern und Brüder, auch unsere Gemeinden und Gemeinschaften und unsere Familien „heilige Orte“ sein könnten oder es vielleicht auch wieder mehr werden müssten? Spirituelle Orte, geistliche Zentren, Orte, wo man miteinander betet und wo man versucht, den Frieden zu leben?

 

Und ob uns nicht mehr bewusst sein sollte, liebe Schwestern und Brüder, dass unser eigenes Herz Tempel Gottes ist, Wohnort des Geistes, Wohnort seiner Liebe? Das vergessen wir oft.

Und doch könnte es so heilsam sein und stärkend zu wissen und zu spüren: „Du näher als mir als ich mir selbst, innerer als mein Innerstes, göttliches Licht, heiliger Geist, ewige Liebe“ (Edith Stein).