geistliche Impulse

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Vortrag

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Heiligenverehrung heute?

(Teil 1)

 

Spielen die Heiligen in ihrem Leben eine Rolle?

Bedeuten Ihnen die Heiligen etwas?

 

Würden wir jetzt hier eine kleine Umfrage machen, kämen sicher verschiedene Antworten:

Jemand ist vielleicht ein großer Marienverehrer. Jemand anders betet vielleicht oft zum hl. Antonius. Wieder ein anderer hat eine gute Beziehung zu seinem Namenspatron. Oder er hält viel von der hl. Hildegard von Bingen. Oder Elisabeth von Thüringen, die große Heilige der Nächstenliebe, ist jemandem ein Vorbild. Ein anderer ist begeistert von Franziskus und der franziskanischen Spiritualität. Oder fühlt sich angezogen von Therese von Lisieux und ihrer Geistigkeit.

 

Bei dem Wort „heilig“ oder „Heiliger“ denken vielleicht aber auch einige an seltsam, an verschroben, muffig, rückständig, an Kitsch und märchenhafte Heiligenlegenden. Und so ein „komischer Heiliger“ möchte man auf keinen Fall sein.

 

HEILIGENVEREHRUNG HEUTE?

Ich kam einmal mit einer Frau ins Gespräch. Sie hatte gerade ihren 70. Geburtstag gefeiert. Sie erzählte mir sichtlich betroffen und ein Stück weit auch verärgert, was ihr passiert ist.

Sie wollte der Frau ihres Enkelsohnes für deren neue Wohnung ein Marienbild schenken. Die junge Frau lehnte ab. Sie sagte, dafür habe sie keinen Platz in der Wohnung. Außerdem könne sie mit Maria sowieso nicht viel anfangen. Sie bete zu Gott und für sie sei allein Jesus wichtig.

 

Die Oma fragt mich: „Was sagen Sie dazu? Gibt es denn so et­was, dass jemand an Gott glaubt und betet, aber nichts von der Mutter Gottes hält, dass für jemand Jesus wichtig ist, aber nichts für Maria, die Mutter Jesu übrig hat und mit ihr nichts anfangen kann?“

 

Ein anderes Beispiel: In einer Schwesterngemeinschaft wird morgens gemeinsam die Laudes, das kirchliche Morgenlob, gesungen. Anschließend ist es bei ihnen Brauch, dass sie noch ein paar andere Gebete anfügen. Neben dem „Engel des Herrn“ sprechen sie auswendig das bekannte Mariengebet: „O meine Gebieterin, o meine Mutter...“

 

Nun ist eine junge Schwester aus dem Mutterhaus zu dieser Gemeinschaft dazugekommen. Bei einem Hauskapitel, wo verschiedene Dinge besprochen wurden, machte sie den Vorschlag, das Gebet zu streichen. Sie sagte, sie könne das Gebet nicht nachvollziehen. Sie könne sich nur Gott darbringen? Eine tägliche Weihe an Maria käme für sie nicht in Frage. Bei der Profess habe sie sich ein für allemal Jesus anvertraut und sich ihm geweiht. Außerdem, sagt sie, täte sie sich auch schwer mitzusingen „Gut, Blut und Leben will ich dir geben, alles, was immer ich hab, was ich bin.“ Jesus wolle sie ihre Hingabe zeigen. Ihm wolle sie allein gehören. Allein Gott sei mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben. Nicht wahr, so steht es doch in der Bibel?

Zwei Beispiele: Keines davon erfunden. Beides ist mir selbst zu Ohren gekommen.

 

Neulich fragte mich jemand: Kann man nicht ein guter Christ sein, ohne zu den Heiligen zu beten und sie zu verehren?

Kann es nicht lästig sein oder zur Resignation führen, wenn ich als Durchschnittschrist ständig die Heiligen als Musterchristen vor Augen gestellt bekomme und aufgefordert werde, ihrem Beispiel nachzueifern? Ein Durchschnittschüler will ja auch nicht immer mit dem Musterschüler einer Klasse verglichen werden. Zu groß sind die Unterschiede.

 

Stehen die Heiligen nicht unerreichbar über uns? Wer ist schon im Religiösen und in der Tugend so „spitze“ wie sie es waren? Können wir bringen, was sie gebracht haben? Ist es nicht deprimierend, immer wieder den Abstand zu spüren und das Gefühl zu haben, das nie zu schaffen und immer wieder hinter dem Ideal zurückzubleiben?

 

Jemand anders äußerte sich in einem Gespräch einmal so:

Heilige als Vorbilder: ja! Da kann ich noch mit, aber als Fürsprecher oder Mittler: da hört es bei mir auf. Wir haben doch einen Fürsprecher beim Vater: Jesus. Mir genügt das. Da brauche ich nicht noch die Heiligen mit ihren verschiedenen Ressorts und Zuständigkeiten: den einen für Halskrankheiten, den andern für verlorene Sachen, wieder einen anderen bei Liebeskummer und noch einen für eine gute Sterbestunde, einen für die Bergleute, für die Bauern, werdende Mütter oder die Feuerwehr.

Außerdem, beten wir nicht im Gloria der hl. Messe: „Du allein bist der Heilige“?

Wie können wir dann auch noch Menschen als „Heilige“ bezeichnen? Widerspricht sich das nicht? Stellt das nicht jede Heiligenverehrung in Frage? Das sind ernste Einwände.

 

Nun, so können wir fragen:

Tun wir nicht richtig, wenn wir die Heiligen und an ihrer Spitze Maria loben, preisen, sie ehren und zu ihnen beten?

Tun wir nicht richtig, wenn wir ihnen und allen voran Maria unseren Dank und unsere Liebe zeigen?

Tun wir falsch, wenn wir den Heiligen - und da besonders wieder Maria - ein kindlich, gläubiges Vertrauen entgegenbringen?

Wenden wir uns an die falsche Adresse, wenn wir mit unseren Bitten und Sorgen, mit unseren Nöten und Anliegen zu den Heiligen kommen, zu den Aposteln Petrus und Paulus z.B., zum heiligen Antonius, Wendelinus, Rochus, Judas Thaddäus oder den heiligen 14 Nothelfern...?

 

Und ist es abwegig, wenn wir in Maria, der Mutter des Erlösers, eine Hilfe der Christen, die Trösterin der Betrübten, eine Zuflucht der Sünder oder die Mutter des guten Rates sehen?

Ist es denn verkehrt, ein Bild der Gottesmutter oder ein anderes Heiligenbild in der Wohnung zu haben?

Oder nehmen wir Jesus etwas weg, wenn wir in Lied und Gebet auch seine Mutter oder die heiligen Apostel, Märtyrer, Bekenner, Kirchenlehrer, die Heiligen der Nächstenliebe oder unsere Namenspatrone grüßen, zu ihnen rufen, ihnen unsere Bitten sagen und sie um ihre Fürsprache anrufen?

Sollen und dürfen die Heiligen keinen Platz haben in unserem christlichen Leben?

 

1972 traf der bekannte Hagiograph Walter Nigg in einem Vortrag die schockierende Behauptung: „Die Heiligen verlassen die Kirche.“

In der Tat: es scheint so zu sein, dass viele Christen - auch Katholiken - keine Beziehung mehr zu den Heiligen finden und sich mit Heiligenverehrung schwer tun.

Die Heiligen sind für sie weit weggerückt. Viele können nichts mehr damit anfangen.

Gehören die Heiligen schon bald zum alten Eisen?

Droht Heiligenverehrung eine Angelegenheit alter Frauen und weltabgeschiedener Klöster zu werden?

Woran liegt es, wenn heute die Heiligen verblassen, wenn ihre Verehrung nachlässt?

Woran liegt es, wenn sich immer mehr schwer tun damit und keinen rechten Zugang dazu finden?

 

Liegt er verschüttet unter einem Wust von frommem, traditionellem Überschwang?

Erfolgt jetzt der Pendelschlag von einer übertriebenen Heiligenverehrung ins andere Extrem, in den Minimalismus oder gar in die völlige Abstinenz?

Oder ist es auch im katholischen Raum die Entdeckung der Bibel, ist es das Licht des Wortes Gottes, das alle Leuchten der Kirchengeschichte überstrahlt und verblassen lässt?

Oder ist es einfach die Gottferne der modernen Zeit, die überall dort, wo ein Berg zum Ewigen aufragt, mit Psychologie und Soziologie ihn abzutragen versucht?

Oder ist es unsere eigene Gottferne, die uns jene Frauen und Männer, die die Liebe lebten und die Nähe Gottes suchten, auf Abstand halten lässt?

Oder ist es, wie manche meinen, Christus selbst, der nun stärker in den Mittelpunkt rückt und damit die Heiligen, die angeblich bisher den Blick auf ihn verstellt haben, in den Hintergrund drängt?

Oder ist es eine abstrakt gewordene Theologie, der das konkrete Leben durch die Finger rinnt?

Was sollen wir sagen, wenn sogar Theologen befürchten, durch Maria und die Verehrung der Heiligen werde die einzigartige Stellung Jesu angetastet oder geschmälert?

Wen wundert es, dass bei solchem Denken und bei solcher Einstellung liebgewordene Andachtsformen schwinden und seit Kindheit vertraute Lieder nicht mehr gesungen und von der nachfolgenden Generation bald nicht mehr gekonnt werden?

 

Gewiss, wir müssen es zugeben: Es gab und gibt in der Heiligenverehrung neben vielen guten auch manche ungesunde Züge, Entgleisungen und Übertreibungen.

Nicht selten mengte sich Glaube mit Aberglaube, kindliche Liebe mit kindischer Schwärmerei, Kunst mit Kitsch. Nicht selten verwischten die Grenzen.

Oft wurde auch das Leben der Heiligen hinterher zu kräftig und bunt ausgemalt mit Wundern und Erscheinungen, mit asketischen Spitzenleistungen und spektakulären Taten, so dass oft, weil zu dick aufgetragen wurde, nicht mehr zu erkennen war, dass die Heiligen Menschen aus Fleisch und Blut waren und gar nicht aus so ganz anderem Holz geschnitzt wie wir.

Wenigstens für Außenstehende konnte es gelegentlich auch so aussehen, als stelle man, wenn es um Maria und ihre Verehrung ging, das Geschöpf über den Schöpfer.

In frommem Überschwang wurde die Magd Gottes fast zur Halbgöttin erhoben. Selbst die amtliche Kirche musste manchmal eingreifen, um die Dinge richtig zu stellen und die ärgsten Auswüchse zu beseitigen.

 

Als Therese von Lisieux zur Kirchenlehrerin erhoben wurde, da habe ich mich mit ihr und ihrem Leben befasst und bin auf eine interessante Aussage von ihr gestoßen, die sie wenige Wochen vor ihrem Tod gemacht hat. Sie hat sich da über ihre Beziehung zu Maria geäußert. Es ist eine Aussage, die man, wenn man Therese von Lisieux nur oberflächlich kennt, gar nicht von ihr erwarten würde. Sie sagt:

„Wie gerne wäre ich Priester gewesen, um über die selige Jungfrau zu predigen! Ich hätte vor allem gesagt, wie wenig wir eigentlich von ihrem Leben wissen. Man dürfte nicht unwahrscheinliche Sachen über sie erzählen. Damit eine Predigt über die selige Jungfrau Frucht trägt, müsste sie ihr wirkliches Leben aufzeigen, wie das Evangelium es durchblicken lässt. Man zeigt uns die selige Jungfrau unerreichbar. Man müsste sie nachahmbar zeigen... Man müsste sagen, dass sie wie wir aus dem Glauben gelebt hat. Man müsste so reden, dass die Menschen sie lieben können. Wenn man bei einer Predigt über die Mutter Gottes von Anfang bis zum Ende gezwungen wird, vor Staunen nach Luft zu schnappen, lauter Ach und Oh!, dann hat man bald genug, und das führt weder zur Liebe noch zur Nachahmung. Wer weiß, ob nicht manche Seele zuletzt sogar bis zu einer Art Entfremdung von einem derart überlegenen Geschöpf getrieben wird?“

 

Therese v. Lisieux hielt nichts davon, die Heiligen - hier Maria - hochzustilisieren, in unerreichbare Ferne zu rücken. Sie wollte eine Beziehung des Vertrauens, der Nähe, der Liebe.

 

Doch wie lange Zeit und wie oft wurde ihr eigenes Leben lieblich und verkitscht dargestellt. Die erste Ausgabe ihrer Selbstbiogra­phie, die „Geschichte einer Seele“ wurde von Mitschwestern retuschiert, geglättet, so überarbeitet, dass sie dem Klischee einer heiligmäßigen Ordensfrau entsprach: sanft, demütig, gottesfürchtig, der herrschenden Frömmigkeit angepasst. Erst Ende der 50er Jahre hat man das übermalte Antlitz der Heiligen freizulegen versucht und ihre Selbstbiographie erschien unzensiert.

 

Das alles wird nicht bestritten. Aber dürfen wir deshalb das Kind mit dem Bad ausschütten? Die Heiligen links liegen lassen? Sie in die Ecke stellen?

Wäre es nicht ein großer Verlust, wenn wir unseren Lebensweg auf Gott hin bauen müssten ohne das „lebendige Buch“ der Heiligen, ohne den Kompass, also die Orientierungshilfe ihres Lebens aus Gott und mit Gott und im Dasein für die Menschen?

 

Einige Jahr nach seiner Behauptung: „Die Heiligen verlassen die Kirche“, hat W. Nigg ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: „Die Heiligen kommen wieder.“

Sie kommen wieder in die Kirchenräume, die mancherorts vom Bildersturm kahl und leer gefegt wurden. Sie kommen wieder in den bekannten „Porträts engagierter Christen“. Sie werden in Predigtreihen neu entdeckt. In Musicals stehen sie wieder auf. Eine Flut von Biographien stellt sie uns vor. Denken Sie nur an Hildegard v. Bingen, Elisabeth von Thüringen. Theresa Von Avila, Franz von Assisi, aber auch Therese von Lisieux oder Edith Stein, Maximilian Kolbe, Alfred Delp…

 

Brauchen wir und braucht vor allem die Jugend nicht Richtbilder und Leitbilder, auf die wir schauen können, an deren Leben wir unser Leben ausrichten und orientieren können? Von denen wir, ohne stur zu imitieren, lernen und abgucken können, wie Leben nach dem Willen Gottes, Leben aus dem Glauben, Leben in der Nachfolge Christi möglich ist und gelingen kann.

 

Walter Nigg sagt: „Das Fehlen des Leitbildes ist eine schwere geistige Not unserer Zeit. Anstelle der Leitbilder sind die Idole getreten, deren ausdruckslose Gesichter uns aus den Illustrierten stupid entgegenschauen. Die Entwurzelung des heutigen Menschen, die Nichtbewältigung der einfachsten Probleme... sind Folgen der Ablösung der Leitbilder durch die Idole. Denn im echten Leitbild sind wegweisende Kräfte beschlossen.“

 

Ideen, Systeme, Sätze, Meinungen und abstrakte Wahrheiten sind gut und schön. Die gibt es genug. Aber können sie jemanden überzeugen, geschweige denn begeistern.

„Exempla trahunt“ heißt ein lateinisches Sprichwort. Zu Deutsch: „Beispiele reißen mit“.

Prägen und formen, packen und begeistern, anstecken und entzünden tut das Greifbare, Sichtbare, Lebendige und Leibhaftige.

Vorbilder sind es, die imponieren, große Gestalten faszinieren. Beispiele ziehen an. Nur die gelebte christliche Existenz macht Eindruck. Nur Ergriffene ergreifen.

 

Wir brauchen Richtbilder und Leitbilder, zu denen wir aufschauen können, an deren Leben wir unser Leben ausrichten und orientieren können, die uns zeigen, wie man und dass man den Glauben, die Hoffnung, die Liebe intensiv leben kann.

Wir brauchen - mit einem Wort - die Heiligen als konkrete Ge­stalten des Glaubens, als lebendige Beispiele, die uns anspornen und ermutigen, genauso bewusst, genauso intensiv, genauso entschieden christlich zu leben.

Wir brauchen die Heiligen, die uns zeigen - an deren Leben wir ablesen können, wie sehr der Mensch zur Vollendung gelangt, der es wagt, sich ganz auf Gott einzulassen, auf sein Wort zu hören, nach seinem Willen zu fragen und den Spuren des Evangeliums zu folgen.